Pharma-Agrar-Spagat: Deutscher Konzern richtet Kerngeschäft neu aus

Bayer ist ein Konzern im Spagat: Die innovative Pharmasparte ringt mit den Milliardenlasten der Agrarsparte aus der Monsanto-Übernahme. Unter neuer Führung steht der Riese nun am Scheideweg. Gelingt der Turnaround oder ist eine Aufspaltung die einzige Lösung für den doppelten Riesen?

Veröffentlicht am 18.06.2025

Ein Konzern, zwei Welten: Das Dilemma des doppelten Riesen

Um die aktuelle Situation bei Bayer zu verstehen, muss man die fundamentalen Unterschiede seiner beiden Kerngeschäftsbereiche begreifen. Sie sind wie zwei unterschiedliche Organismen, die unter einem gemeinsamen Konzerndach leben und um Ressourcen, Aufmerksamkeit und strategische Ausrichtung konkurrieren.

Die Pharma-Sparte (Pharmaceuticals): Dieses Segment ist das traditionelle Herzstück von Bayer. Es lebt von bahnbrechenden Innovationen, die durch langjährige Patente geschützt sind. Die Entwicklung eines neuen Medikaments kann über eine Milliarde Euro kosten und mehr als ein Jahrzehnt dauern. Gelingt jedoch ein Durchbruch, winken sogenannte „Blockbuster“-Umsätze in Milliardenhöhe und hohe Gewinnmargen. Der Erfolg hängt von einer exzellenten Forschungs- und Entwicklungsabteilung (F&E), erfolgreichen klinischen Studien und einer cleveren Vermarktung ab. Gleichzeitig ist der Druck enorm: Läuft ein Patent aus, stürzen sich Generika-Hersteller auf den Markt und die Umsätze brechen ein. Genau dieses Schicksal droht Bayer bei seinen bisherigen Umsatzgaranten, dem Gerinnungshemmer Xarelto und dem Augenmedikament Eylea.

Die Agrar-Sparte (Crop Science): Seit der Übernahme von Monsanto im Jahr 2018 ist Bayer der weltweit größte Anbieter von Saatgut und Pflanzenschutzmitteln. Dieses Geschäft ist weniger von einzelnen Patenten als vielmehr von globalen Agrarzyklen, Rohstoffpreisen und Wetterbedingungen abhängig. Die Margen sind in der Regel niedriger als im Pharmabereich, dafür sind die Umsätze stabiler und großflächiger. Die größte Herausforderung liegt hier jedoch nicht in der Forschung, sondern in der gesellschaftlichen und politischen Arena. Themen wie Gentechnik, der Einsatz von Pestiziden wie Glyphosat und die Forderung nach nachhaltiger Landwirtschaft dominieren die öffentliche Debatte und setzen den Konzern unter ständigen Rechtfertigungsdruck.

Dieser interne Konflikt lähmt den Konzern seit Jahren. Während die Pharma-Sparte dringend Kapital für teure Forschung benötigt, verschlingt die Agrar-Sparte Unsummen für Rechtsstreitigkeiten und Rückstellungen. Der Aktienkurs spiegelte diese Zerrissenheit wider und notierte über Jahre auf einem Mehrjahrestief – eine schmerzhafte Realität für jeden Langzeitinvestor.

Die Wurzeln der Krise: Wie die Monsanto-Übernahme zur Dauerbelastung wurde

Keine Analyse der heutigen Situation ist vollständig ohne einen Blick auf das Jahr 2018. Die 63 Milliarden US-Dollar schwere Übernahme des US-Saatgutriesen Monsanto sollte Bayer zum unangefochtenen Weltmarktführer in der Agrarchemie machen. Strategisch klang der Plan plausibel: Die Kombination aus Bayers Pflanzenschutz-Expertise und Monsantos führender Position bei gentechnisch verändertem Saatgut sollte enorme Synergien freisetzen. Man wollte Landwirten eine integrierte Lösung aus einer Hand anbieten.

Doch mit Monsanto kaufte sich Bayer nicht nur Marktanteile, sondern auch eine juristische Zeitbombe. Der in Monsantos Unkrautvernichter „Roundup“ enthaltene Wirkstoff Glyphosat stand im Verdacht, krebserregend zu sein. Was folgte, war eine Klagewelle von historischem Ausmaß in den USA. Bis heute musste der Konzern über 16 Milliarden Euro an Rückstellungen für Vergleiche und zukünftige Klagen bilden. Diese Summe übersteigt den Gewinn mehrerer Jahre und band Kapital, das an anderer Stelle dringend fehlte.

Die Folgen waren verheerend:

  1. Finanzielle Last: Die hohe Verschuldung durch den Kaufpreis und die Milliardenkosten für Rechtsstreitigkeiten schränkten die finanzielle Flexibilität des Konzerns massiv ein.
  2. Reputationsschaden: Bayer wurde weltweit zum Synonym für die negativen Aspekte der industriellen Landwirtschaft. Das Image als angesehenes Pharmaunternehmen erlitt schweren Schaden.
  3. Fokusverlust: Das Management war über Jahre primär damit beschäftigt, die juristischen Brände zu löschen, anstatt sich auf die operative und strategische Weiterentwicklung zu konzentrieren.

Die neue Strategie: Radikaler Umbau statt sanfter Korrekturen

Mit dem Antritt von CEO Bill Anderson im Jahr 2023 weht ein neuer Wind durch die Leverkusener Konzernzentrale. Anderson, der zuvor die Pharma-Sparte von Roche leitete, kündigte einen radikalen Kulturwandel an. Sein Modell des „Dynamic Shared Ownership“ zielt darauf ab, Hierarchien abzubauen, Bürokratie zu zerschlagen und die Verantwortung zurück an die Teams zu geben, die direkt am Produkt und Kunden arbeiten. Tausende von Managementstellen wurden bereits gestrichen.

Die entscheidende Frage, die die Finanzmärkte seitdem bewegt, lautet: Wird es bei diesem internen Umbau bleiben oder folgt der große Wurf – die Aufspaltung des Konzerns? Eine Abspaltung der Consumer-Health-Sparte (rezeptfreie Medikamente wie Aspirin oder Bepanthen) oder sogar der gesamten Agrar-Sparte steht im Raum. Die Logik dahinter ist einfach:

  • Vorteile einer Aufspaltung: Getrennte Unternehmen könnten sich besser auf ihre jeweiligen Märkte konzentrieren. Die Pharma-Sparte könnte als reines Innovationsunternehmen auftreten und würde an der Börse vermutlich höher bewertet. Die Agrar-Sparte könnte ihre eigene Strategie verfolgen, ohne die Pharma-Sparte mit ihren Problemen zu belasten. Die Summe der Einzelteile könnte mehr wert sein als der aktuelle Konglomerats-Abschlag.
  • Nachteile einer Aufspaltung: Eine Aufspaltung ist komplex und teuer. Zudem argumentieren Befürworter des integrierten Modells, dass es langfristige Synergien in der biotechnologischen Forschung (z.B. bei RNA-Technologien) gibt, die in beiden Bereichen Anwendung finden könnten.

Stand Mitte 2025 hat sich das Management gegen eine sofortige Aufspaltung entschieden, um sich zunächst auf die operative Sanierung und den Schuldenabbau zu konzentrieren. Die Option bleibt jedoch auf dem Tisch und dient als starker Anreiz für das Management, schnelle Erfolge zu liefern.

Chancen und Potenziale: Wo das zukünftige Wachstum liegt

Trotz aller Probleme schlummern im Bayer-Konzern erhebliche Werte und Potenziale, die durch die Neuausrichtung gehoben werden sollen.

Im Pharmabereich liegt der Fokus klar auf der F&E-Pipeline. Nach dem drohenden Wegfall der Xarelto- und Eylea-Umsätze müssen neue Blockbuster her. Große Hoffnungen ruhen auf:

  • Zell- und Gentherapien: Durch die Übernahme von Unternehmen wie BlueRock Therapeutics und Asklepios BioPharmaceutical hat sich Bayer eine starke Position in diesem zukunftsweisenden Feld gesichert. Hier geht es um potenziell heilende Einmal-Behandlungen für bisher unheilbare Krankheiten.
  • Onkologie: Mit dem Prostatakrebs-Medikament Nubeqa hat Bayer bereits einen wachstumsstarken Hoffnungsträger im Portfolio. Weitere zielgerichtete Krebstherapien sind in der Entwicklung.
  • Digitale Gesundheit: Partnerschaften und Investitionen in KI-gestützte Medikamentenentwicklung sollen die Forschungszyklen beschleunigen und die Erfolgsquote erhöhen.

Im Agrarbereich vollzieht Bayer einen strategischen Schwenk hin zu mehr Nachhaltigkeit. Anstatt nur auf Chemie zu setzen, wird das Portfolio um biologische Lösungen und digitale Technologien erweitert.

  • Biologika: Biologische Pflanzenschutzmittel, die auf Mikroorganismen oder natürlichen Substanzen basieren, sollen eine umweltfreundlichere Alternative zu chemischen Produkten bieten. Der Markt hierfür wächst jährlich zweistellig.
  • Digitale Landwirtschaft: Die Plattform Climate FieldView sammelt Wetter-, Boden- und Maschinendaten, um Landwirten präzise Empfehlungen für Aussaat, Düngung und Pflanzenschutz zu geben. Das spart Ressourcen und steigert den Ertrag.
  • Saatgut-Innovation: Die Forschung konzentriert sich auf die Entwicklung von Pflanzensorten, die widerstandsfähiger gegen Dürre, Schädlinge und Krankheiten sind und weniger Wasser und Dünger benötigen.

Wenn es Bayer gelingt, in diesen Feldern als Innovationsführer wahrgenommen zu werden, könnte sich das Narrativ von der „Glyphosat-Firma“ hin zum Lösungsanbieter für globale Gesundheits- und Ernährungsfragen wandeln.

Fakten-Check: Bayer im Überblick (Stand Juni 2025)
CEO Bill Anderson (seit Juni 2023)
Hauptsitz Leverkusen, Deutschland
Kerngeschäftsbereiche Pharmaceuticals (Pharma), Crop Science (Agrar), Consumer Health (Rezeptfreie Produkte)
Wichtige Pharma-Produkte Xarelto, Eylea, Nubeqa, Kerendia
Wichtige Agrar-Produkte Roundup (Glyphosat), Dekalb (Saatgut), Climate FieldView (Digitale Plattform)
Größte Herausforderung Bewältigung der Glyphosat-Rechtsstreitigkeiten und hohe Verschuldung
Größte Chance Erfolgreiche F&E-Pipeline in der Pharma und Wandel zum nachhaltigen Agrar-Anbieter
Strategischer Fokus Operative Sanierung, Schuldenabbau, Innovation in Zell- & Gentherapie sowie biologischem Pflanzenschutz

Fazit: Eine Wette auf den Turnaround – Lohnt sich der Einstieg?

Der Bayer-Konzern steht an einem Scheideweg. Die kommenden 18 bis 24 Monate werden entscheidend sein. Gelingt es dem neuen Management unter Bill Anderson, die operative Leistung nachhaltig zu verbessern, die Rechtskosten in den Griff zu bekommen und die Innovationspipeline mit Leben zu füllen, hat die Aktie erhebliches Aufholpotenzial. Der Konzern ist an der Börse derzeit deutlich niedriger bewertet als die Summe seiner Teile, was eine klassische Turnaround-Chance darstellt.

Die Risiken bleiben jedoch hoch. Ein erneutes Aufflammen der Klagewelle in den USA oder ein Scheitern wichtiger klinischer Studien könnten den Aktienkurs schnell wieder unter Druck setzen. Für Investoren ist Bayer daher aktuell keine sichere Bank, sondern eine hochriskante Wette auf den Erfolg einer der ambitioniertesten Restrukturierungen in der deutschen Industrie. Der Pharma-Agrar-Spagat ist noch nicht vollzogen. Ob Bayer am Ende gestärkt und aufrecht daraus hervorgeht oder an der Doppelbelastung zerbricht, bleibt die spannendste Frage am deutschen Kapitalmarkt.

* Enthält bezahlte Werbelinks .

Haftungsausschluss: Bei allen Inhalten auf Börse.net handelt es sich ausdrücklich nicht um Anlageberatung. Ihre Risikodisposition kann von uns nicht eingeschätzt werden. Der Autor besitzt keines der genannten Wertpapiere. Keiner der Inhalte stellt ein Angebot zum Kauf oder Verkauf von Wertpapieren dar. Falls Sie sich doch zu einem Kauf oder Verkauf entscheiden, handeln Sie immer auf eigenes Risiko.

Teilen

Die wichtigsten Börsen-News in Ihr Postfach

Melden Sie sich an, um Zugang zu Premium-Inhalten zu erhalten, oder kontaktieren Sie uns, wenn Sie irgendwelche Fragen haben.

Jetzt abonnieren