Die Anatomie des Absturzes: Vom Pandemie-Gewinner zum Sorgenkind
Um die heutige Situation zu verstehen, ist ein Blick zurück unerlässlich. Während der globalen Lockdowns ab 2020 erlebte Delivery Hero einen Boom sondergleichen. Restaurants waren geschlossen, Menschen arbeiteten von zu Hause und der bequemste Weg zur Mahlzeit führte über eine App. Das Bruttowarenvolumen (GMV) und der Umsatz explodierten förmlich. Die Börse feierte das Unternehmen als einen der großen Gewinner der "New Economy" und katapultierte die Aktie in den deutschen Leitindex DAX.
Doch der Aufstieg war ebenso rasant wie der Fall, der darauf folgte. Mehrere Faktoren kamen zusammen und bildeten einen perfekten Sturm:
- Das Ende des Pandemie-Booms: Mit der Wiedereröffnung der Gastronomie und der Rückkehr zur Normalität normalisierte sich auch die Nachfrage. Das einst exponentielle Wachstum flachte deutlich ab.
- Die Zinswende: Steigende Zinsen trafen Wachstumsunternehmen, die noch keine Gewinne schreiben, besonders hart. Zukünftige erhoffte Erträge sind in einem Hochzinsumfeld weniger wert, was eine Neubewertung der Aktien zur Folge hatte.
- Die Profitabilitätsfrage: Jahrelang galt die Devise "Wachstum um jeden Preis". Investoren tolerierten hohe Verluste, solange die Nutzerzahlen und das GMV stiegen. Doch das Marktumfeld hat sich gedreht. Der Fokus liegt nun unerbittlich auf Profitabilität. Delivery Hero kämpft bis heute damit, auf Konzernebene nachhaltig schwarze Zahlen zu schreiben.
- Hohe Kosten: Ein aggressiver Expansionskurs und ein intensiver Wettbewerb in Dutzenden von Märkten erforderten massive Investitionen in Marketing und Subventionen, um Kunden und Fahrer für die Plattform zu gewinnen. Diese Kosten fraßen die Margen auf.
- Regulatorischer Gegenwind: Weltweit geriet das Geschäftsmodell der "Gig Economy" unter Druck. Debatten über den Status von Fahrern (selbstständig vs. angestellt) und mögliche Regulierungen schufen zusätzliche Unsicherheit.
Diese Melange aus externen Schocks und internen Herausforderungen führte zu einer massiven Vertrauenskrise unter den Anlegern und erklärt den drastischen Kursverfall der Aktie auf Niveaus um die 25-Euro-Marke.
Das Geschäftsmodell unter der Lupe: Mehr als nur Essenslieferung
Das Geschäftsmodell von Delivery Hero ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Es ruht auf zwei zentralen Säulen: dem Plattformgeschäft und dem "Quick Commerce" (Q-Commerce). Im Plattformgeschäft agiert das Unternehmen als Vermittler zwischen Restaurants und Kunden. Für jede vermittelte Bestellung erhält Delivery Hero eine Provision. Dieses Modell ist relativ schlank und kann in reifen Märkten profitabel sein.
Die zweite und strategisch immer wichtigere Säule ist der Q-Commerce, der vor allem durch die Tochtergesellschaft Glovo vorangetrieben wird. Hier geht es um die ultraschnelle Lieferung von Supermarktartikeln, Medikamenten oder Elektronik aus kleinen, lokalen Warenlagern ("Dark Stores"). Dieser Markt verspricht enormes Wachstum, ist aber auch extrem kapitalintensiv und operativ anspruchsvoll. Die Fähigkeit, den Q-Commerce profitabel zu skalieren, wird für den langfristigen Erfolg von Delivery Hero entscheidend sein.
Ein wesentliches Merkmal des Unternehmens ist seine globale Ausrichtung mit einem starken Fokus auf Schwellen- und Entwicklungsländer in Asien, dem Nahen Osten, Nordafrika (MENA) und Lateinamerika. Dies ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits bieten diese Regionen ein deutlich höheres Wachstumspotenzial als die gesättigten Märkte in Europa oder Nordamerika. Andererseits sind sie mit höheren politischen und wirtschaftlichen Risiken sowie Währungsschwankungen verbunden.
Management am Scheideweg: Die Turnaround-Strategie
Angesichts des massiven Drucks hat das Management unter CEO Niklas Östberg eine strategische Neuausrichtung eingeleitet. Der Fokus hat sich klar von reinem Wachstum hin zu "profitablem Wachstum" verschoben. Die Kernpunkte der Turnaround-Strategie sind:
- Portfolio-Optimierung: Unrentable Märkte und Geschäftsbereiche werden konsequent auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls verkauft. Ein prominentes Beispiel war der frühere Rückzug aus dem deutschen Markt. Der Fokus liegt nun auf den Regionen, in denen Delivery Hero eine führende Marktposition innehat und einen klaren Weg zur Profitabilität sieht.
- Kostenkontrolle und Effizienz: Die Marketingausgaben wurden deutlich zurückgefahren. Statt teurer Neukundenakquise konzentriert man sich auf die Bindung und Aktivierung bestehender Kunden. Technologische Investitionen in Logistik und Automatisierung sollen die Effizienz pro Bestellung steigern.
- Erreichen des Free-Cashflow-Ziels: Das oberste Ziel ist das Erreichen eines positiven Free Cashflows auf Konzernebene. Die jüngsten Quartalszahlen deuten darauf hin, dass das Unternehmen diesem Ziel näherkommt. So wurde im ersten Quartal 2025 ein robustes GMV-Wachstum von 9 % auf 12,4 Milliarden Euro erzielt, was auf eine gewisse Stabilisierung hindeutet.
Diese Maßnahmen zeigen erste Wirkungen, aber der Weg ist noch weit. Das Management muss beweisen, dass die Strategie nicht nur auf dem Papier funktioniert, sondern zu nachhaltig positiven Ergebnissen führt.
Delivery Hero auf einen Blick (Stand: Juni 2025)
Kennzahl | Wert / Information |
Aktueller Kurs | ca. 24,79 EUR |
Marktkapitalisierung | ca. 6,8 Mrd. EUR |
52-Wochen-Hoch | ca. 45 EUR |
52-Wochen-Tief | ca. 18 EUR |
Analysten-Konsens | 11 Kaufempfehlungen, 7 Halteempfehlungen, 1 Verkaufsempfehlung |
Durchschnittliches Kursziel (2026) | ca. 38,34 EUR |
CEO | Niklas Östberg |
Wichtigste Märkte | Asien, MENA (Naher Osten & Nordafrika), Europa (v.a. über Glovo), Lateinamerika |
Zentrales Unternehmensziel | Erreichen eines nachhaltig positiven Free Cashflows |
Die Aktie im Check: Chancen gegen Risiken abwägen
Für Anleger stellt sich die Frage, ob die Chancen die erheblichen Risiken überwiegen. Die Bewertung der Aktie ist nach dem Absturz deutlich attraktiver geworden. Sollte der Turnaround gelingen, winkt ein erhebliches Kurspotenzial, wie auch das durchschnittliche Analystenziel von über 38 Euro andeutet.
Die größten Chancen:
- Erfolgreicher Turnaround: Gelingt es dem Management, die Profitabilitätsziele zu erreichen, dürfte der Markt dies mit einer deutlichen Neubewertung der Aktie honorieren.
- Marktführerschaft: In vielen seiner Kernmärkte ist Delivery Hero die Nummer eins oder zwei. Diese starken Positionen schaffen Eintrittsbarrieren für neue Wettbewerber.
- Wachstum im Q-Commerce: Der Markt für ultraschnelle Lieferungen steckt noch in den Kinderschuhen. Als einer der globalen Pioniere könnte Delivery Hero hier langfristig eine sehr profitable Nische besetzen.
- Günstige Bewertung: Im Vergleich zu historischen Multiples und im Verhältnis zum Bruttowarenvolumen erscheint die Aktie günstig, sofern der Weg in die Gewinnzone gelingt.
Die größten Risiken:
- Scheitern der Profitabilitätswende: Dies ist das mit Abstand größte Risiko. Sollte das Unternehmen weiterhin Geld verbrennen, drohen weitere Kapitalmaßnahmen, die den Aktienkurs verwässern würden.
- Intensiver Wettbewerb: Der Liefermarkt ist hart umkämpft. Lokale und globale Konkurrenten wie Just Eat Takeaway oder DoorDash üben ständigen Druck auf die Margen aus.
- Makroökonomische Lage: Eine schwache Konjunktur oder eine hohe Inflation können die Ausgabenbereitschaft der Konsumenten für Lieferdienste dämpfen.
- Regulierung: Strengere Gesetze bezüglich der Arbeitsbedingungen von Fahrern könnten das Kostenmodell des Unternehmens fundamental verändern.
Fazit: Ist Delivery Hero jetzt ein Kauf für Ihr Depot?
Delivery Hero ist zweifellos eine der spannendsten, aber auch riskantesten Turnaround-Storys am deutschen Aktienmarkt. Die Zeit des Wachstums um jeden Preis ist vorbei. Das Schicksal der Aktie hängt nun vollständig davon ab, ob das Management seine Versprechen einlösen und das riesige globale Netzwerk in eine nachhaltig profitable Maschine umwandeln kann.
Für konservative und risikoscheue Anleger ist die Aktie aufgrund der bestehenden Unsicherheiten derzeit wahrscheinlich keine geeignete Wahl. Die Gefahr weiterer Rückschläge ist real, und die Volatilität wird hoch bleiben.
Für spekulativ orientierte und risikobereite Investoren könnte sich jedoch eine interessante Chance bieten. Wer an die langfristige Wachstumsstory des Online-Liefergeschäfts glaubt, die strategische Neuausrichtung des Managements für überzeugend hält und die Geduld mitbringt, mögliche Schwankungen auszusitzen, findet mit Delivery Hero eine Aktie mit erheblichem Aufholpotenzial. Der Einstiegszeitpunkt nach der massiven Korrektur ist verlockend. Dennoch bleibt es eine Wette auf die erfolgreiche Umsetzung der Turnaround-Pläne. Investoren sollten die kommenden Quartalsberichte genauestens verfolgen, um zu sehen, ob der eingeschlagene Pfad zur Profitabilität Früchte trägt.