Thyssenkrupp: Transformation vom Stahlriesen zum Technologiekonzern

Thyssenkrupp im tiefgreifenden Wandel: Vom Stahlriesen zum Technologiekonzern. Eine Analyse der Strategie, Chancen und Fallstricke dieses riskanten Weges.

Veröffentlicht am 15.06.2025

Thyssenkrupp: Vom Stahlriesen zum Technologiekonzern? Eine tiefgehende Analyse der Transformation

Die Thyssenkrupp AG, ein Name, der über Generationen untrennbar mit der deutschen Stahlindustrie verbunden war, befindet sich inmitten eines der tiefgreifendsten Transformationsprozesse seiner langen Geschichte. Angesichts globaler Überkapazitäten im Stahlsektor, steigender Energiekosten, des unaufhaltsamen Drucks zur Dekarbonisierung und disruptiver technologischer Entwicklungen sieht sich der Essener Traditionskonzern gezwungen, sein Geschäftsmodell fundamental neu auszurichten. Die Vision ist klar: Weg vom zyklischen und CO2-intensiven Stahlgeschäft, hin zu einem agileren, technologieorientierten Industriekonzern mit Fokus auf margenstärkere Zukunftsfelder. Doch dieser Weg ist steinig, kapitalintensiv und birgt erhebliche Risiken. Kann Thyssenkrupp den Wandel vom schwerfälligen Stahlgiganten zum innovativen Technologieanbieter meistern und damit langfristig wieder Wert für seine Aktionäre schaffen? Eine Analyse der Strategie, der Chancen und der Fallstricke.

Die Notwendigkeit zur Veränderung ist nicht neu. Bereits in den vergangenen zwei Jahrzehnten versuchte Thyssenkrupp, sich breiter aufzustellen, investierte Milliarden in den Anlagenbau, in die Aufzugsparte oder in die Komponententechnologie für die Automobilindustrie. Doch die Dominanz des Stahlgeschäfts mit seinen hohen Investitionszyklen und seiner Anfälligkeit für globale Wirtschaftsschwankungen blieb eine schwere Hypothek. Verfehlte Großinvestitionen, wie das milliardenschwere Debakel mit den Stahlwerken in Brasilien und den USA, zehrten an der Substanz und trieben die Verschuldung in die Höhe. Der Konzernumbau unter verschiedenen Vorstandsvorsitzenden glich oft einem Stückwerk, ohne eine nachhaltig überzeugende strategische Linie.

Die aktuelle Strategie: Radikaler Umbau und Fokussierung

Unter der Führung des aktuellen Managements, seit Juni 2023 mit Miguel Ángel López Borrego an der Spitze, hat sich der Transformationsprozess beschleunigt und konkretisiert. Die Kernidee ist eine konsequente Portfoliobereinigung und die Stärkung von Geschäftsbereichen, die von den globalen Megatrends Nachhaltigkeit und Digitalisierung profitieren. Dies bedeutet schmerzhafte, aber notwendige Schritte:

  1. Abspaltung und Verselbstständigung von Geschäftsbereichen: Der Verkauf der hochprofitablen Aufzugsparte im Jahr 2020 für über 17 Milliarden Euro war ein entscheidender Meilenstein. Er spülte dringend benötigtes Kapital in die Kassen und ermöglichte einen Schuldenabbau. Aktuell stehen weitere Bereiche zur Disposition oder werden auf eine eigenständige Zukunft vorbereitet. Die Sparte Marine Systems (U-Boot- und Marineschiffbau) soll bis 2025 verselbstständigt werden, möglicherweise durch einen Börsengang oder einen Verkauf. Auch für das Wasserstoffgeschäft thyssenkrupp nucera, ein Joint Venture mit der italienischen De Nora, wurde 2023 erfolgreich ein Börsengang vollzogen, der die hohe Bewertung dieses Zukunftsfeldes unterstrich und weiteres Kapital für Wachstum freisetzte.
  2. Neuausrichtung des Stahlgeschäfts: Die traditionsreiche Stahlsparte, einst das Herzstück des Konzerns, wird grundlegend restrukturiert. Angesichts der enormen Investitionen, die für eine "grüne" Stahlproduktion auf Basis von Wasserstoff notwendig sind, sucht Thyssenkrupp nach Partnern. Im April 2024 wurde bekannt, dass der tschechische Energiekonzern EPH unter Daniel Křetínský zunächst 20 Prozent an der Stahlsparte übernehmen will, mit dem Ziel einer späteren 50/50-Partnerschaft. Diese Kooperation soll nicht nur Kapital einbringen, sondern auch den Zugang zu grüner Energie sichern, die für die Direktreduktionsanlagen unerlässlich ist. Dennoch bleibt die Zukunft des Stahls herausfordernd, verbunden mit Kapazitätsanpassungen und einem weiteren Personalabbau.
  3. Stärkung der Zukunftstechnologien: Der Fokus liegt klar auf Bereichen wie der Wasserstofftechnologie (thyssenkrupp nucera gilt als einer der weltweit führenden Anbieter von Elektrolyseuren zur Herstellung von grünem Wasserstoff), dem Anlagenbau für die chemische Industrie (Uhde) mit Fokus auf Ammoniak- und Methanolanlagen (wichtige Energieträger und Grundstoffe für eine dekarbonisierte Wirtschaft), sowie dem Bereich Materials Services, der sich vom reinen Stahlhändler zum intelligenten Werkstoffdienstleister wandelt. Auch die Automotive-Sparte (Bearings, Forged Technologies) soll durch Innovationen im Bereich Elektromobilität und Leichtbau zukunftsfähig gemacht werden. Der im Oktober 2023 neu geschaffene Geschäftsbereich "Decarbon Technologies" bündelt viele dieser zukunftsträchtigen Aktivitäten.

Chancen der Transformation

Die strategische Neuausrichtung birgt erhebliche Chancen. Gelingt es Thyssenkrupp, sich als Schlüsselakteur in den wachstumsstarken Märkten für Dekarbonisierungstechnologien zu etablieren, winken deutlich höhere Margen und eine stabilere Geschäftsentwicklung als im volatilen Stahlsektor. Insbesondere das Wasserstoffgeschäft mit thyssenkrupp nucera hat das Potenzial, zu einem globalen Champion heranzuwachsen, getrieben durch die weltweiten Anstrengungen zur Reduktion von CO2-Emissionen.

Die Verselbstständigung von Geschäftsbereichen kann verborgene Werte heben und den einzelnen Sparten mehr Flexibilität und eine klarere strategische Ausrichtung ermöglichen. Der Konzern als Ganzes könnte dadurch schlanker, agiler und für Investoren attraktiver werden. Eine erfolgreiche Partnerschaft im Stahlbereich könnte die Last der notwendigen Milliardeninvestitionen für die grüne Transformation schultern und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit sichern. Zudem verfügt Thyssenkrupp über ein enormes Engineering-Know-how und eine starke industrielle Basis, was bei der Entwicklung und Skalierung neuer Technologien von unschätzbarem Wert ist.

Die Digitalisierung spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Im Bereich Materials Services werden bereits digitale Plattformen für Lagerhaltung, Logistik und Anarbeitung genutzt, um Effizienz zu steigern und neue Dienstleistungen anzubieten ("Materials as a Service"). Auch in der Produktion, etwa in der Automotive-Sparte, sollen durch Industrie 4.0-Anwendungen Prozesse optimiert und Kosten gesenkt werden.

Risiken und Herausforderungen

Der Weg zum Technologiekonzern ist jedoch mit erheblichen Risiken gepflastert. Die Transformation erfordert immense Investitionen, insbesondere in die Entwicklung und den Ausbau der Wasserstofftechnologie und die Umstellung der Stahlproduktion. Ob diese Investitionen die erhofften Renditen erwirtschaften, ist angesichts des starken Wettbewerbs und der noch nicht vollständig ausgereiften Märkte unsicher. Die Finanzlage des Konzerns bleibt trotz des Verkaufs der Aufzugsparte angespannt. Der Free Cashflow vor M&A war im Geschäftsjahr 2022/23 mit -3,7 Milliarden Euro stark negativ, auch wenn für 2023/24 eine deutliche Verbesserung und ein ausgeglichener Wert erwartet wird. Die Netto-Finanzschulden lagen Ende März 2024 bei rund 3,5 Milliarden Euro.

Die Umsetzung der komplexen Restrukturierungsmaßnahmen, einschließlich der Abspaltung von Marine Systems und der Integration eines Partners im Stahlbereich, birgt operative Risiken. Es besteht die Gefahr, dass der Umbau zu lange dauert, zu viele Ressourcen bindet und das Kerngeschäft vernachlässigt wird. Der Wettbewerb im Bereich der grünen Technologien ist intensiv. Zahlreiche Unternehmen, von etablierten Industriekonzernen bis hin zu agilen Start-ups, drängen in diesen Markt. Thyssenkrupp muss hier seine Innovationskraft und Geschwindigkeit unter Beweis stellen.

Auch externe Faktoren wie geopolitische Spannungen, steigende Zinsen und eine mögliche Konjunkturabschwächung können die Transformation erschweren. Die Abhängigkeit von staatlichen Förderungen, insbesondere für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft und die grüne Stahlproduktion, ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor. Sollten diese Subventionen gekürzt werden oder ausbleiben, könnten wichtige Projekte gefährdet sein.

Nicht zuletzt ist der kulturelle Wandel innerhalb des Konzerns eine immense Herausforderung. Der Übergang von einer traditionellen, hierarchisch geprägten Organisation zu einem agilen, innovationsgetriebenen Technologieunternehmen erfordert ein Umdenken auf allen Ebenen und die Bereitschaft, alte Zöpfe abzuschneiden. Dies ist oft schwieriger als die rein technische oder finanzielle Restrukturierung.

Nützliche Fakten zu Thyssenkrupp im Wandel

Die folgende Tabelle fasst einige wichtige Kennzahlen und Aspekte der Transformation zusammen (Stand und Prognosen basieren auf Unternehmensangaben und Analystenschätzungen, Stand ca. Mitte 2024/Anfang 2025):

Kennzahl/Aspekt Information
Kernstrategie Transformation zum diversifizierten Technologiekonzern ("Group of Companies") mit Fokus auf Dekarbonisierung und Digitalisierung
Wichtigste neue Sparte Decarbon Technologies (bündelt u.a. thyssenkrupp nucera für grünen Wasserstoff, Uhde für grüne Chemieanlagen, Polysius für grünen Zement)
Status Stahlsparte Geplante 50/50 Joint Venture mit Energiekonzern EPH (tschechische EP Corporate Group), EPH übernimmt zunächst 20% für die Stahlsparte
Performance Programm "APEX" zur Steigerung der operativen Leistungsfähigkeit und Profitabilität aller Geschäfte
Wichtige Desinvestitionen/IPOs Verkauf Aufzugsparte (2020), IPO thyssenkrupp nucera (2023), geplante Verselbstständigung Marine Systems (bis 2025)
Mitarbeiterzahl (Konzern, ca.) Rund 98.000 (Stand Ende Q2 2023/24), deutlicher Rückgang durch Verkäufe und Restrukturierung
Wichtigstes Klimaziel Klimaneutralität der eigenen Produktion und Energienutzung bis 2045 in Deutschland, global bis spätestens 2050. Bis 2030 Reduktion der Scope 1 & 2 Emissionen um 47% gegenüber 2018.
Größte Herausforderung Finanzierung der kapitalintensiven grünen Transformation, Erreichen nachhaltiger Profitabilität in den neuen Geschäftsfeldern, Umsetzung der komplexen Portfolio-Umbauten
Umsatz (GJ 2022/23) 37,5 Milliarden Euro
Bereinigtes EBIT (GJ 2022/23) 703 Millionen Euro (Prognose für GJ 2023/24: weiterhin hohes dreistelliges Mio.-Euro-Niveau)
Ausblick Free Cashflow v. M&A (GJ 23/24) Erwartet im niedrigen bis mittleren dreistelligen Millionen-Euro-Bereich (nach -3,7 Mrd. € im Vorjahr)

Auswirkungen auf die Aktie und Fazit

Für Anleger ist die Aktie von Thyssenkrupp seit Jahren eine Enttäuschung. Der Kurs spiegelt die Unsicherheiten und die hohen Kosten des Umbaus wider. Die Bewertung des Unternehmens liegt deutlich unter der Summe der Teile, was auf ein erhebliches Misstrauen des Kapitalmarktes hindeutet. Gelingt es dem Management jedoch, die Transformation erfolgreich voranzutreiben, die Profitabilität nachhaltig zu steigern und die Schulden weiter zu reduzieren, könnte sich dieses Bild ändern. Insbesondere die erfolgreiche Entwicklung und Skalierung der Geschäfte im Bereich Decarbon Technologies könnte zu einer Neubewertung führen.

Der Weg vom Stahlriesen zum Technologiekonzern ist für Thyssenkrupp ein Marathon, kein Sprint. Es erfordert Ausdauer, strategische Klarheit, finanzielle Disziplin und eine hohe Umsetzungsgeschwindigkeit. Die bisherigen Schritte zeigen eine klare Richtung, doch die größten Herausforderungen liegen möglicherweise noch vor dem Konzern. Die nächsten zwei bis drei Jahre werden entscheidend sein, um zu beweisen, dass Thyssenkrupp die Wende schaffen und sich als relevanter Akteur in den Zukunftsmärkten etablieren kann. Die Chancen sind vorhanden, doch die Risiken bleiben signifikant. Ob die Transformation letztendlich gelingt und Thyssenkrupp zu altem Glanz in neuem Gewand zurückfindet, wird die Zeit zeigen. Der Konzern hat die Weichen gestellt – nun muss er liefern.

* Enthält bezahlte Werbelinks .

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