Ein Gigant im Wandel: Die Anatomie des Umbruchs
Wer Thyssenkrupp verstehen will, muss die Komplexität des Konzerns begreifen. Lange Zeit war das Unternehmen ein weitverzweigtes Konglomerat, das von Aufzügen über Autoteile und U-Boote bis hin zum klassischen Stahlgeschäft alles unter einem Dach vereinte. Diese Struktur, einst ein Zeichen von Stärke und Diversifikation, wurde zunehmend zur Fessel. Sie führte zu Ineffizienz, internen Konflikten und einer massiven Unterbewertung an der Börse. Der Wert der Einzelteile schien den Wert des Ganzen bei Weitem zu übersteigen.
Die aktuelle Strategie zielt darauf ab, diese Fesseln zu sprengen. Der wohl schmerzhafteste, aber wirtschaftlich notwendigste Schritt war der Verkauf der hochprofitablen Aufzugsparte im Jahr 2020. Der Milliardenerlös wurde dringend benötigt, um die erdrückende Schuldenlast zu reduzieren und die Bilanz zu sanieren. Doch dies war nur der Anfang. Der Konzernumbau folgt einer klaren Logik: Fokussierung auf die Kerngeschäfte mit Zukunftspotenzial und die Trennung von Bereichen, die nicht mehr zur strategischen Ausrichtung passen oder den Konzern belasten.
Im Zentrum dieser Transformation steht das ewige Sorgenkind: die Stahlsparte. Seit Jahren wird über deren Zukunft gerungen. Eine Fusion, ein Verkauf, ein Börsengang oder eine Partnerschaft – alle Optionen wurden und werden geprüft. Die Herausforderungen sind immens: hohe Energiekosten in Deutschland, die teure Umstellung auf eine CO2-neutrale Produktion ("grüner Stahl") und der harte Wettbewerb aus Asien. Eine nachhaltige Lösung für den Stahlbereich ist der Dreh- und Angelpunkt für den Erfolg des gesamten Umbaus. Ohne eine Klärung dieser Frage bleibt Thyssenkrupp ein Sanierungsfall mit ungewissem Ausgang.
Hoffnungsträger und Sorgenkinder: Ein Blick in die Sparten
Nach den Verkäufen und Umstrukturierungen präsentiert sich Thyssenkrupp heute als ein schlankerer, aber immer noch diversifizierter Industriekonzern. Die verbliebenen Segmente weisen sehr unterschiedliche Profile auf.
- Materials Services: Dies ist das größte Segment nach Umsatz. Als einer der weltweit führenden Werkstoffhändler und -dienstleister ist dieser Bereich das Bindeglied zwischen Stahlproduktion und verarbeitender Industrie. Das Geschäft ist stark konjunkturabhängig, profitiert aber von einer globalen Präsenz und einem breiten Produktportfolio. Digitalisierung und Effizienzsteigerung in der Lieferkette sind hier die entscheidenden Zukunftsthemen.
- Industrial Components & Automotive Technology: Hier bündelt Thyssenkrupp sein Geschäft mit Großwälzlagern, Schmiedekomponenten und Lenksystemen für die Automobilindustrie. Während das Geschäft mit Komponenten für Windkraftanlagen und den Maschinenbau solide Perspektiven bietet, ist die Abhängigkeit von der Automobilbranche ein zweischneidiges Schwert. Die Transformation zur Elektromobilität birgt sowohl Risiken für traditionelle Produkte als auch Chancen für neue Technologien.
- Marine Systems: Diese Sparte gilt als das Juwel im Konzern. Als einer der führenden Hersteller von konventionellen U-Booten und Marineschiffen profitiert Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS) direkt von den weltweit steigenden Verteidigungsausgaben. Die Auftragsbücher sind gut gefüllt, und die technologische Expertise ist unbestritten. Viele Analysten sehen in TKMS einen versteckten Wert, der bei einer möglichen Abspaltung oder einem Börsengang gehoben werden könnte. Die Sparte ist ein klarer Hoffnungsträger.
- Steel Europe: Das Herzstück und zugleich das größte Sorgenkind. Die Stahlproduktion in Duisburg ist eine der größten in Europa, leidet aber unter den bereits genannten strukturellen Nachteilen. Die Zukunft hängt davon ab, ob die Transformation zu grünem Stahl gelingt. Dies erfordert Investitionen in Milliardenhöhe, die das Unternehmen ohne staatliche Förderungen kaum stemmen kann. Gelingt der Wandel, könnte sich Thyssenkrupp als führender Anbieter von CO2-armem Qualitätsstahl positionieren. Scheitert er, bleibt die Sparte eine schwere Last.
Die Aktie unter der Lupe: Zahlen, Daten, Fakten
Der Blick auf die Finanzkennzahlen und die Aktienkursentwicklung zeigt ein Bild der Hoffnung, aber auch der Unsicherheit. Nach Jahren des Niedergangs befindet sich die Aktie seit Anfang 2025 in einem langfristigen Aufwärtstrend. Anfang Juli notierte das Papier bei rund 9 Euro und damit deutlich über den Tiefstständen der Vorjahre. Dies spiegelt den Optimismus wider, dass die Restrukturierung Früchte tragen könnte.
Die Prognosen für das laufende Geschäftsjahr 2025 untermauern diese Hoffnung. Analysten erwarten zwar einen leichten Umsatzrückgang auf rund 34,5 Milliarden Euro, doch die Profitabilität soll sich drastisch verbessern. Nach einem negativen Ergebnis im Vorjahr wird eine Rückkehr in die Gewinnzone mit einer Nettomarge von über 1 % prognostiziert. Die operative EBITDA-Marge soll sich von unter 2 % auf fast 4,8 % mehr als verdoppeln. Diese Zahlen deuten darauf hin, dass die Kostensenkungs- und Effizienzprogramme zu greifen beginnen.
Allerdings sind sich die Experten uneins über die weiteren Aussichten. Das Lager der Analysten ist gespalten: Jeweils sieben Experten empfehlen die Aktie zum Kaufen bzw. zum Halten, während zwei zum Verkauf raten. Noch deutlicher wird die Unsicherheit beim Blick auf die Kursziele. Während Optimisten wie die Baader Bank ein Ziel von 8,00 Euro ausgeben, sehen Pessimisten wie JP Morgan den fairen Wert bei lediglich 4,10 Euro. Das durchschnittliche Kursziel liegt mit 5,83 Euro sogar deutlich unter dem aktuellen Kursniveau. Diese große Spanne zeigt, wie unterschiedlich die Erfolgsaussichten des Konzernumbaus bewertet werden. Investoren müssen sich auf anhaltend hohe Volatilität einstellen. Auch die Dividendenpolitik ist ein Zeichen der Instabilität; eine kontinuierliche Ausschüttung gab es in den letzten Jahren nicht.
Kennzahl | Prognose / Status (Juli 2025) |
Umsatzprognose 2025 | ca. 34,46 Mrd. Euro |
Prognose EBITDA-Marge 2025 | ca. 4,79 % |
Prognose Nettomarge 2025 | ca. 1,16 % (Rückkehr in Gewinnzone) |
Aktienkurs (Anfang Juli 2025) | ca. 9,08 Euro |
Analysten-Konsens | Gespalten (7 Kaufen, 7 Halten, 2 Verkaufen) |
Durchschnittliches Kursziel | 5,83 Euro |
Wichtigste Hoffnungsträger | Marine Systems, Materials Services |
Größte Herausforderung | Zukunft der Stahlsparte (Steel Europe) |
Chancen und Risiken: Was Anleger wissen müssen
Eine Investition in Thyssenkrupp ist derzeit eine Wette auf den Erfolg des Managements. Die potenziellen Chancen sind ebenso groß wie die Risiken.
Die Chancen:
- Hebung stiller Reserven: Ein erfolgreicher Umbau und die mögliche Abspaltung von Sparten wie Marine Systems könnten erhebliche Werte freisetzen, die im aktuellen Börsenkurs nicht abgebildet sind.
- Grüner Stahl als Wettbewerbsvorteil: Gelingt die Transformation der Stahlproduktion mit staatlicher Hilfe, könnte Thyssenkrupp zu einem gefragten Premiumanbieter für klimafreundlichen Stahl werden.
- Schlankere Struktur: Ein fokussierterer Konzern kann agiler auf Marktveränderungen reagieren und dürfte langfristig profitabler wirtschaften.
- Geopolitischer Rückenwind: Die Sparte Marine Systems profitiert von einer veränderten Sicherheitslage und stabilen, langfristigen Aufträgen.
- Günstige Bewertung: Trotz des jüngsten Kursanstiegs ist die Aktie im historischen Vergleich und gemessen am Substanzwert potenziell immer noch unterbewertet – sofern der Turnaround gelingt.
Die Risiken:
- Umsetzungsrisiko: Der Konzernumbau ist hochkomplex und kann an vielen Stellen scheitern oder sich verzögern. Insbesondere die Lösung für die Stahlsparte ist noch nicht gefunden.
- Konjunkturabhängigkeit: Eine globale Rezession würde die Segmente Materials Services und Automotive Technology empfindlich treffen und die Erholung gefährden.
- Hoher Kapitalbedarf: Die Dekarbonisierung der Stahlproduktion verschlingt Milliarden. Die Finanzierung ist eine große Hürde.
- Volatilität der Rohstoff- und Energiemärkte: Steigende Kosten für Energie und Rohstoffe können die frisch gewonnene Profitabilität schnell wieder zunichtemachen.
- Verschuldung: Trotz des Verkaufs der Aufzugsparte bleibt die finanzielle Lage angespannt. Hohe Schulden schränken den Spielraum für Investitionen ein.
Fazit: Gelingt der Neustart im Maschinenraum?
Thyssenkrupp befindet sich an einem entscheidenden Wendepunkt seiner langen Geschichte. Der eingeschlagene Weg der radikalen Transformation ist alternativlos und bietet die realistische Chance, den Konzern auf eine stabile und profitable Basis zu stellen. Die ersten Erfolge in Form von verbesserten Margen und einem steigenden Aktienkurs sind unverkennbar. Die Fokussierung auf zukunftsfähige Bereiche wie Marine Systems und spezialisierte Industriedienstleistungen ist der richtige Schritt.
Dennoch ist der Weg noch weit und steinig. Die ungelöste Zukunftsfrage der Stahlsparte schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Konzern. Sie ist der Schlüssel, der darüber entscheidet, ob Thyssenkrupp den Sprung in die neue industrielle Zeit schafft oder als Mahnmal eines vergangenen Zeitalters endet. Für Anleger ist die Aktie damit eine klassische Turnaround-Spekulation. Sie ist kein Investment für schwache Nerven oder kurzfristig orientierte Händler. Wer jedoch an den Erfolg des Managements glaubt und bereit ist, die hohe Volatilität und die erheblichen Risiken in Kauf zu nehmen, könnte am Ende einer mehrjährigen Reise Zeuge eines der eindrucksvollsten Comebacks der deutschen Wirtschaftsgeschichte werden. Der Neustart im Maschinenraum der Wirtschaft hat begonnen – der Ausgang ist offen.