Jenseits China: Friend-Shoring und De-Risking für neue Anlagemöglichkeiten

Die Ära der Hyper-Globalisierung weicht neuen Spielregeln: Friend-Shoring und De-Risking gestalten die Weltwirtschaft um. Erfahren Sie, welche Länder und Branchen von der Neuordnung der Lieferketten profitieren und wo die größten Anlagechancen für Investoren liegen.

Veröffentlicht am 01.07.2025

Die neuen Spielregeln: Was bedeuten Friend-Shoring und De-Risking?

Um die Chancen dieses Wandels zu ergreifen, ist es entscheidend, die treibenden Konzepte zu verstehen. Auch wenn sie oft synonym verwendet werden, beschreiben „Friend-Shoring“ und „De-Risking“ unterschiedliche, wenn auch verwandte Strategien.

Friend-Shoring ist ein primär politisch motivierter Ansatz. Er beschreibt die bewusste Verlagerung von Produktion und Lieferketten in Länder, die als ideologische und politische Verbündete gelten. Das Ziel ist es, die wirtschaftliche Verflechtung mit geopolitischen Rivalen, allen voran China, zu reduzieren und stattdessen Allianzen mit demokratischen und marktwirtschaftlich orientierten Partnern zu stärken. Es geht um Vertrauen und gemeinsame Werte als Basis für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die US-Finanzministerin Janet Yellen prägte diesen Begriff maßgeblich und betonte die Notwendigkeit, mit einer „großen Gruppe von vertrauenswürdigen Ländern“ zusammenzuarbeiten.

De-Risking (Risikominderung) ist ein breiter gefasster und eher wirtschaftlich getriebener Begriff. Hier geht es nicht zwingend um eine vollständige Abkopplung („Decoupling“), sondern um eine intelligente Diversifizierung. Unternehmen und Staaten erkennen, dass die übermäßige Konzentration auf einen einzigen Lieferanten oder Produktionsstandort ein enormes Risiko darstellt. Naturkatastrophen, Pandemien oder politische Unruhen können eine gesamte Lieferkette lahmlegen. De-Risking bedeutet also, die Abhängigkeit zu verringern, indem man auf mehrere Standbeine setzt – China mag ein Bein bleiben, aber es ist nicht mehr das einzige. Diese Strategie zielt auf Resilienz und Stabilität ab, ohne die Vorteile der Globalisierung gänzlich aufzugeben.

Beide Trends führen in der Praxis zu einem ähnlichen Ergebnis: Investitionen und Produktionskapazitäten fließen aus China ab und suchen sich neue Standorte. Die Konsequenzen sind bereits jetzt spürbar und schaffen ein neues Spielfeld für globale Investitionen.

Die Profiteure des Wandels: Welche Länder stehen im Rampenlicht?

Während China vor einer gewaltigen Herausforderung steht, seinen Status zu wahren, positionieren sich andere Nationen als die großen Gewinner dieser Neuausrichtung. Anleger sollten diese aufstrebenden Zentren genau im Auge behalten.

  1. Mexiko: Durch seine geografische Nähe zu den USA und das Handelsabkommen USMCA (United States-Mexico-Canada Agreement) ist Mexiko der natürliche Hauptprofiteur des Near-Shoring, einer Unterform des Friend-Shoring. US-Unternehmen verlagern ihre Produktion für den nordamerikanischen Markt zunehmend südlich der Grenze, um Transportkosten zu senken und Lieferketten zu verkürzen. Insbesondere die Automobil-, Elektronik- und Medizintechnikbranche boomt.
  2. Vietnam: Das südostasiatische Land wird oft als der „nächste Tiger“ bezeichnet. Mit einer jungen, dynamischen Bevölkerung, niedrigen Lohnkosten und einer wirtschaftsfreundlichen Regierung hat sich Vietnam als attraktive Alternative zu China etabliert. Zahlreiche internationale Konzerne, von Tech-Giganten bis hin zu Textilherstellern, haben ihre Produktion bereits dorthin verlagert oder bauen sie massiv aus.
  3. Indien: Als bevölkerungsreichste Demokratie der Welt ist Indien ein strategischer Partner für den Westen. Die Regierung treibt mit der „Make in India“-Initiative aktiv die heimische Produktion voran. Das Land verfügt über einen riesigen Binnenmarkt und einen wachsenden Pool an gut ausgebildeten Fachkräften, insbesondere im IT- und Dienstleistungssektor. Unternehmen wie Apple erweitern ihre iPhone-Produktion in Indien massiv, ein klares Zeichen für das Vertrauen in den Standort.
  4. Osteuropa (insb. Polen und Tschechien): Für den europäischen Markt spielen Länder in Osteuropa eine ähnliche Rolle wie Mexiko für die USA. Ihre Nähe zu den großen Volkswirtschaften der EU, eine gut ausgebaute Infrastruktur und qualifizierte Arbeitskräfte machen sie zu idealen Standorten für die Produktion von Automobilteilen, Maschinen und Elektronik.
  5. Weitere ASEAN-Staaten: Auch Länder wie Indonesien, Malaysia und Thailand profitieren. Sie bieten eine Mischung aus Rohstoffreichtum, wachsenden Konsumentenmärkten und zunehmender Integration in globale Handelsabkommen.

Branchen im Fokus: Wo entstehen die größten Chancen?

Der Wandel betrifft nicht alle Sektoren gleichermaßen. Besonders in strategisch wichtigen und technologisch anspruchsvollen Branchen ist der Druck zur Diversifizierung am größten. Hier liegen auch die größten Investitionschancen.

Halbleiter: Kaum eine Branche ist politisch so aufgeladen wie die Chip-Produktion. Die Abhängigkeit von Taiwan und China gilt als eines der größten globalen Risiken. Mit milliardenschweren Förderprogrammen wie dem „CHIPS and Science Act“ in den USA und dem „European Chips Act“ in der EU wird der Aufbau heimischer und befreundeter Produktionskapazitäten massiv subventioniert. Unternehmen, die Anlagen in den USA oder Europa bauen, sowie die Zulieferer dieser Projekte sind klare Gewinner.

Erneuerbare Energien und Batterietechnologie: Die Energiewende ist eine weitere Arena des geopolitischen Wettbewerbs. China dominiert derzeit die Lieferketten für Solarpaneele, Windturbinenkomponenten und Batteriezellen. Westliche Länder streben hier nach größerer Unabhängigkeit, um ihre Klimaziele nicht von Importen abhängig zu machen. Investitionen in Unternehmen, die alternative Lieferketten für kritische Rohstoffe wie Lithium oder Kobalt aufbauen oder die Produktion von Batterien und Solarmodulen in Europa und Nordamerika ansiedeln, sind vielversprechend.

Medizintechnik und Pharma: Die COVID-19-Pandemie hat schmerzhaft offengelegt, wie gefährlich die Konzentration der Produktion von Medikamentenwirkstoffen (APIs) und medizinischer Schutzausrüstung in Asien ist. Regierungen fördern nun aktiv die Rückverlagerung („Reshoring“) oder das Friend-Shoring dieser kritischen Güter, um die nationale Gesundheitsversorgung zu sichern.

Automatisierung und Robotik: Die Verlagerung der Produktion in Hochlohnländer ist nur dann wirtschaftlich, wenn die Prozesse hochgradig automatisiert werden. Unternehmen, die Fabrikautomatisierung, Industrieroboter und Logistiktechnologie anbieten, erleben daher eine stark steigende Nachfrage.

Fakten und Zahlen zum globalen Lieferkettenwandel

Aspekt Beschreibung / Daten Relevanz für Anleger
Makroökonomischer Einfluss Modelle des IWF zeigen, dass bereits eine moderate Verlagerung von Lieferketten fast 1 % des globalen BIP betreffen kann. Unterstreicht die enorme wirtschaftliche Tragweite des Trends. Es handelt sich um eine strukturelle, keine kurzfristige Verschiebung.
US-Investitionen in Mexiko Die ausländischen Direktinvestitionen in Mexiko haben Rekordhöhen erreicht, angeführt von US-Firmen, die ihre Produktion verlagern. Ein konkreter Beweis für das funktionierende Near-Shoring-Modell. Mexikanische Industrie- und Logistikaktien profitieren direkt.
Wachstumsprognosen Wirtschaftsprognosen für Vietnam und Indien liegen konstant über dem globalen Durchschnitt, oft im Bereich von 6-7 % pro Jahr. Investments in diesen Märkten bieten die Chance, an überdurchschnittlichem Wachstum zu partizipieren.
Staatliche Förderungen Der US CHIPS Act stellt über 50 Mrd. USD bereit. Die EU plant ähnliche Summen zur Förderung der Halbleiterindustrie. Direkte Subventionen schaffen ein günstiges Umfeld für Unternehmen in geförderten Sektoren und reduzieren deren Investitionsrisiko.
Chinas Handelsdominanz China ist nach wie vor für ca. 15 % des Welthandels verantwortlich. Ein De-Risking ist ein langwieriger Prozess. Der Wandel geschieht evolutionär, nicht revolutionär. Dies gibt Anlegern Zeit, ihre Portfolios schrittweise anzupassen.

Konkrete Anlagestrategien und die Kehrseite der Medaille

Wie können Anleger nun praktisch von diesem Trend profitieren? Es gibt mehrere Wege:

  • ETFs auf Schwellenländer ex-China: Eine einfache und diversifizierte Methode ist die Investition in börsengehandelte Fonds, die gezielt Schwellenländer abbilden, aber China ausklammern (z. B. „Emerging Markets ex-China“ ETFs). So partizipiert man am Wachstum von Ländern wie Indien, Brasilien, Taiwan und Südkorea.
  • Länder-ETFs: Wer gezielter auf die Hauptprofiteure setzen möchte, kann ETFs auf den indischen (Nifty 50) oder mexikanischen (IPC) Aktienmarkt in Betracht ziehen.
  • Einzelaktien-Auswahl: Die gezielte Auswahl von Aktien erfordert mehr Recherche, kann aber höhere Renditen bringen. Interessant sind hierbei:
    1. Unternehmen in den Zielländern (z. B. indische Industriekonzerne, mexikanische Logistikfirmen).
    2. Westliche Unternehmen, die den Wandel ermöglichen (z. B. Anbieter von Fabrikautomatisierung, Industrieimmobilien-Entwickler in den neuen Hotspots).
    3. Unternehmen, die ihre Lieferketten erfolgreich diversifizieren und dadurch resilienter und wettbewerbsfähiger werden.

Trotz der enormen Chancen ist es wichtig, die Risiken nicht auszublenden. Die Neuordnung der Lieferketten ist kostspielig. Der Aufbau neuer Fabriken und die Qualifizierung von Arbeitskräften treiben kurz- und mittelfristig die Produktionskosten in die Höhe, was sich in höheren Verbraucherpreisen niederschlagen kann. Zudem mangelt es in vielen der neuen Zielländer noch an der perfekten Infrastruktur und der Dichte an Zulieferern, die China über Jahrzehnte aufgebaut hat. Politische Instabilität oder Korruption in den neuen „befreundeten“ Nationen stellen ebenfalls ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar. Eine sorgfältige Analyse und breite Streuung bleiben daher unerlässlich.

Fazit: Die Welt neu denken

Die globale Wirtschaftslandkarte wird neu gezeichnet. Die Ära der Hyper-Globalisierung mit China als unangefochtenem Zentrum weicht einer multipolaren Welt, in der Resilienz, Sicherheit und strategische Partnerschaften an Bedeutung gewinnen. Friend-Shoring und De-Risking sind keine leeren Schlagworte, sondern die Wegweiser in diese neue Realität.

Für Anleger bedeutet dies eine fundamentale Neubewertung ihrer Strategien. Die einseitige Fokussierung auf die bisherigen Wachstumsmotoren ist riskant geworden. Stattdessen eröffnen sich in Ländern wie Mexiko, Indien und Vietnam sowie in Schlüsselbranchen wie Halbleiter und grüne Technologien historische Chancen. Dieser Wandel ist ein Marathon, kein Sprint. Doch wer jetzt die Weichen richtig stellt und sein Portfolio an die neuen geopolitischen und wirtschaftlichen Realitäten anpasst, wird von einem der größten strukturellen Trends unserer Zeit profitieren können.

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